Via Dolorosa – Auf den Spuren Jesus´
Jerusalem, 31 n. Chr. – Es ist ein sommerlicher Tag im Frühjahr, als ein langhaariger Kerl mit Bart in weißem Gewand – so möchten wir ihn uns gerne vorstellen – der Überlieferung nach einen zentnerschweren Querbalken eines Kreuzes auf seinen Schultern durch die Straßen Jerusalems trägt. Er ist auf dem Weg zu seiner eigenen Kreuzigung auf dem Hügel Golgotha. Der Rest ist Geschichte…
2012 n. Chr. – Ein sommerlicher Tag im Frühjahr, vermutlich ähnlich dem vor ca. 2000 Jahren. Es ist warm, nicht zu warm, gerade ok für Jeans und T-Shirt. Touristenmassen schieben ihre berucksackten Körper durch enge Gassen, gierig einen ganz besonderen Weg zu beschreiten, freiwillig. Einen Weg, den bereits Jesus ging, unfreiwillig. Einen Weg auf dem alles endete – oder begann, je nachdem – dem Via Dolorosa!
Ich bin in Jerusalem. Von ersten Tag an einer der faszinierendsten Orte meines Trips. Ein brodelnder Kessel an Religionen, die historische Altstadt gevierteilt in je ein muslimisches, ein christliches, ein jüdisches und ein armenisches Viertel. Die Altstadt erstreckt sich über eine Fläche von nur einem Quadratkilometer, geographisch gesehen ein winziger Ort auf der Landkarte, ein Fliegenschiss auf dem Globus und für Milliarden von Menschen von unfassbar großer Bedeutung und das ist schrecklich untertrieben, denn es ist de facto DER Mittelpunkt dieses Planeten! Aus religiöser wie auch historischer Sicht.
Jerusalem wird seit jeher als Zentrum der Welt angesehen, umgeben von den drei Kontinenten der „alten“ Welt, wie ihr in meinem ersten Artikel über Jerusalem nachlesen könnt. Die Wichtigkeit dieses Ortes ist eigentlich jedem Analphabeten, der auch nur wenige Jahre der Grundschule zu absolvieren imstande war, bewusst. Doch nun, als ich tatsächlich durch die Straßen Jerusalems laufe und die unvergleichliche Atmosphäre live & myself miterleben darf, fehlen mir die Worte (und mir fehlen höchst selten die Worte) und ich bekomme eine Gänsehaut.
Eine der emotionalsten und auch überraschendsten „Attraktionen“ (ich weiß nicht wie ich es sonst nennen soll, „Sehenswürdigkeit“ käme der Blasphemie noch näher) ist zweifelsohne der Via Dolorosa. Ob gläubig oder atheistisch, Kirchengänger oder Friedhofsschänder, Engel links, Teufel rechts, man muss nicht an Gott glauben, um ergriffen zu sein, von der Tatsache, sich an exakt dem Ort zu befinden, an dem sich all die Dinge von tragender geschichtlicher Bedeutung zugetragen haben.
Doch wenn Du auch nur im geringsten einen Glauben hast, dann garantiere ich Dir, wird dies für Dich der emotionalste Ort des Universums sein! Gläubige aus aller Welt strömen in diese Stadt, um die Atmosphäre dieses heiligen Ortes in sich aufzusaugen, den Ort der Kreuzigung zu besuchen und dort auf die Knie zu fallen, den Salbeiungstein zu küssen, auf dem Jesus´ Leichnam für die Beerdigung vorbereitet wurde oder eben den Via Dolorosa zu laufen und sich einmal mental hineinzuversetzen in Jesus, wie er unter Qualen den Weg zur eigenen Kreuzigung lief.
Und auch ich war fasziniert, überwältigt, völlig unabhängig vom Glauben, selbst aus der Sicht eines Reisenden oder des kleinen Jonnys, der wie alle Kinder dieser Welt seit frühester Kindheit die Geschichte unserer Vorfahren in der Grundschule eingetrichtert bekam und Jerusalem nur aus alten historischen Jesusfilmen kennt. Jesusfilme in denen alles unwirklich erscheint, wie in einem….Film eben. Ich bin begeistert, plötzlich an genau diesem Ort zu sein, durch die engen Gassen Jerusalems zu streunen, umgeben von meterhohen, aus breiten lehmfarbenen Steinblöcken gebauten Wände, die die Gassen noch enger erscheinen lassen, als sie sind. Ich habe das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Das Gefühl, all das schon einmal erlebt zu haben. Neben nervigem Konfirmationsunterricht mit kaugummizähen Bibelstudien und schulischem Religionsunterricht, dürften insbesondere unzählige Filmproduktionen, die hier stattfanden, dazu beitragen, dass ein Spaziergang durch Jerusalems Gassen so vertraut erscheint. Abgefahren…
All die bunten Läden und Händler, die verwinkelten Gässchen aus teils unförmigen, teils exakt zum Rechteck geformten Steinen gebaut. Der Weg, wie Kölner Kopfsteinpflaster, doch Jahrhunderte mehr auf dem Buckel und wesentlich geschichtsträchtiger. Aus allen Ecken strömen Gewürzduftwolken der hiesigen Gewürzhändler und vermischen sich mit dem leckeren Duft, von frisch zubereitetem Streetfood, wie dem Nationalaufdiehandgericht Shawarma, die mit einem dicken Schlag leckerem Humus serviert wird oder der mit Pistazien bestreuselten in Zuckersirup getränkten Blätterteigspeise, für die ich („Du sollst nicht töten!“) würde Baklava oder auch die kleinen Pizza ähnlichen Teigwaren mit Hackfleisch.
An einer Stelle, mitten innerhalb des Gassengewirrs ein kleiner Spot von vielleicht 2 qm im Boden. Eine Stelle, die bis heute erhalten blieb und Boden aus der Zeit Christi zum Vorschein bringt. Ich stehe auf 2000 altem Gestein. Brrr. Gänsehaut. Durchatmen. Kurz realisieren.
Und weiter laufen. Den Via Dolorosa, den unser guter alter Freund Jesus sein Kreuz zum Ort der Kreuzigung getragen hat. Via Dolorosa, lat.: der schmerzhafte Weg oder Leidensweg. Jonny ist kritisch und hakt genauer nach. Ich bin mit einem Reiseführer unterwegs, um aufgrund meiner schauderhaften Religions- und Geschichtskenntnisse auch ja nichts auf dem Weg zu verpassen. Mein Guide erklärt mir, das wir den Weg gehen, wie er zumindest der Überlieferung nach in etwa verläuft, denn der ursprüngliche Bodengrund liegt bis zu 10m unter den heutigen Straßen der Altstadt, bis auf eben diese kleine Stelle, die das original Gestein aus Jesus Zeiten offenbart. Der Höhenunterschied zur damaligen Straßenebene wird an bestimmten Stellen in der Altstadt deutlich, wie hier, wo alte Säulen erhalten werden konnten.
Ein wirklich bedeutendes Reiseerlebnis. So gar nicht vergleichbar mit den oftmals aus dem Nichts hergezauberten Sehenswürdigkeiten, die den Tourismus ankurbeln sollen. Plastik fantastic, eine Statue hier, eine Kirmes dort. In Jerusalem scheint alles mehr Gewicht zu haben, Bedeutung! Nichts wurde für Touristen geschaffen. Es war einfach schon immer dort. Religiös entstanden. Geschichtlich von zentraler Bedeutung für alle Menschen, die hier leben und überall auf dieser Welt. Ich muss zugeben, das gefällt mir. Das gefällt mir sogar sehr gut. Jerusalem hat eine derart magnetische Anziehungskraft, dass sich relativ schnell der Eindruck bestätigt, dass dieser Ort nicht vom Tourismus abhängig ist, sondern ganz im Gegenteil, die Touristen sind abhängig von Jerusalem. Verfallen! Addicted to Jesus! Denn was es hier gibt, gibt es nur hier, nur an diesem Ort. Und vieles wovon wir hier sprechen ist nicht einmal physisch vorhanden aber auch nicht ganz tot. Irgendwas dazwischen…sowas wie „auferstandene Materie“… und zieht Millionen von Touristen an, Jahr für Jahr! Das kann mit Gewissheit kein anderer Ort auf dieser Welt.
Der Via Dolorosa startet am Löwentor und führt bis zur Grabeskirche, die über dem Kreuzigungs- und Grabesort Jesu erbaut wurde und zu den Hauptattraktionen Jerusalems zählt. Der Weg ist in 14 Stationen eingeteilt. Acht davon befinden sich in den engen Gassen der Altstadt, eine auf dem Dach der Grabeskirche und fünf innerhalb der Kirche, das sind dann vor allem der Ort des Zusammenbruchs Jesu, die Stelle, an der er ans Kreuz genagelt wurde und der Ort der Kreuzigung selbst. Im Detail passiere ich auf dem Weg folgende Stationen:
1. Hof der muslimischen Mädchenschule Omariya
2. Franziskanerkapelle der Verurteilung und Geißelung
3. Polnische Kapelle beim armenisch-katholischen Patriarchat (siehe Foto)
4. Armenisch-katholische Kapelle Al-Wad-St.
5. Oratorium der Franziskaner
6. Französische Veronikakirche / Kloster der kleinen Schwestern Jesu
7. Kapelle der Franziskaner
8. Markierungskreuz in der Wand des griechischen Klosters / Rückseite der Grabeskirche El-Khanqa-Straße
9. Dach der Grabeskirche
10. Kapelle der Kleiderverteilung am zugemauerten Eingang zur Grabeskirche
11. Römisch-katholische Kapelle an der Kreuzigungsstelle Golgotha in der Grabeskirche
12. Die Stelle der Kreuzigung
13. Salbungsstein am Eingang der Grabeskirche, Jesus wird hier für das Begräbnis vorbereitet
14. Heiliges Grab in der Grabeskirche
Gemeinsam pilgern
Wöchentlich treffen sich gläubige Christen, um diesen Weg, auch Kreuzweg genannt, in Gemeinschaft und Gedenken an Jesus Christus zur Grabeskirche zu wandern. Für jeden Reisenden, Pilgerer, Gläubigen oder einfach nur historisch Interessierten sicher ein Highlight jedes Israeltrips. Wenn mich nicht alles täuscht, findet der Pilgergang Montags nachmittag statt.
Rent a cross
Um das Erlebnis möglichst authentisch zu gestalten, gibt es die Möglichkeit, ein ca. 1,70m großes Holzkreuz zu mieten (!) und während des Gangs auf dem Via Dolorosa auf dem Buckel zu tragen (yep, richtig gelesen!) Rent a cross, nennt sich die Sache und ich weiß zunächst nicht, ob ich das Ganze als bizarr bis freakig einstufen soll oder als touristischen Nepp oder ob es nicht im Grunde ein reiner Akt der Religion, des tiefen Glaubens der Menschen ist, die einfach nur einen Hauch einer Idee davon haben möchten, unter welchen Qualen Jesus diesen Weg unter sengender Hitze gegangen ist. Ich bin schon einige Tage hier und kann mit Bestimmtheit sagen, „bizarr“ ist Jerusalem mit Gewissheit! Das ganze Treiben hier wird vielen sicher mehr als merkwürdig erscheinen. Um zu verstehen, was hier abgeht, muss man verstehen, wer sich hier trifft, wer vornehmlich Israel bereist und welche Rolle der Glaube in anderen Teilen der Welt spielt.
Die Welt glaubt
Nach einiger Zeit der Reiserei, wird mir schnell klar, dass Menschen in großen Teilen dieser Welt ihr Leben 1000%ig nach ihrem Glauben richten. Während man in Deutschland schief angesehen wird, wenn man sich als Gläubiger oder Kirchengänger outet, ist man anderenorts ein wahrer FREAK, wenn man sich zum Atheismus (Ungläubigkeit) bekennt. In Asien, Südamerika, Afrika und auch in vielen Teilen Europas, wie in Italien oder den muslimischen Ländern, sind die Menschen tief gläubig und ich meine TIEF gläubig und nehmen ihre Religion sehr ernst, richten ihr Leben danach. Darüber ist sich der ottonormal Deutsche, der mit Annahme eines Arbeitsvertrags automatisch zur Zwangsabgabe der Kirchensteuer gelangt und damit erstmals wieder in Kontakt mit dem Verein kommt, nicht wirklich immer im Klaren. Für viele von uns ist der erste Weg nach Unterzeichnung des Arbeitsvertrags der Weg zum Amt, „Einmal aus der Kirche austreten bitte!“ und wir sehen die Sache eher spielerisch…
„Gehen sie in die Kirche, gehen Sie direkt dorthin! Wenn nicht ist übrigens auch egal. Hauptsache, Sie gehen nicht über Los und zahlen 4000 Euro! Jeden Monat!“
Nicht mit mir, denkt sich der deutsche Durchschnittsarbeitnehmer! Deutschland bildet damit wohl eher eine große Ausnahme auch wenn unbestritten ist, dass sich auch in unserem Lande eine große Gemeinde gläubiger Christen und anderer Religionen befindet. Doch wer schon einmal Südamerika bereist hat, weiß mit Sicherheit, wovon ich spreche.
Reisetipp
Daher ein gut gemeinter Rat nach einigen/vielen Begegnungen, Diskussionen und Aha-Erlebnissen während meiner Reise: Sprecht, tauscht Euch aus und informiert Euch über Religion und Glauben Eurer Reisebegegnungen. Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum und Hinduismus gehören zu dieser Welt und Ihren Bewohnern, zur Kultur des jeweiligen Landes und sind damit wesentlicher Bestandteil einer Reise. Dieser Austausch ist hochinteressant und äußerst bereichernd.
ABER stellt niemals und unter keinen Umständen, jemals einen Glauben infrage oder beginnt eine Diskussion über Gottes Dasein. Ihr könnt nur verlieren, anecken oder sogar in große Probleme geraten. „Ich bin doch nur Realist! Kritisch! Suche nach Erklärung!“ zählt hier nicht und interessiert im Zweifel Dein Gegenüber herzlich wenig!
Denn die Welt – und das ist eine meiner wesentlichsten Erkenntnisse dieser Reise – ist gläubiger, als die meisten von uns es sich auch nur annähernd vorstellen können.
Sachliche Auseinandersetzungen darüber, ob es Gott gibt oder nicht, ob die Bibel wahr ist oder falsch, Maria Magdalena hier, Leonardo da Vinci dort – ein Roman, wie der Da Vinci Code, der ein gesamtes Land ins Zweifeln bringt – so etwas funktioniert nur, wo Kirche umstritten ist. Solche Diskussionen sind in vielen Ländern dieser Welt tabu. Trouble vorprogrammiert.
Also, vermeidet Diskussionen – denn:
Die Welt glaubt! Und man trifft sich hier – in Jerusalem!
Und für alle, die sich das noch nicht angetan haben, der ganz besondere Filmtipp zum Via Dolorosa:
Artis und Renate
Danke, Mann! Wahnsinnsartikel mit echt gutem Inhalt! Greetings aus Malaysia – ein verrücktes Religions- und Kulturgewusel 😉
admin
Thx! Viel Spaß dort!
Skraal
Dem letzten Abschnitt kann ich garnicht zustimmen, ich war lange auch zurückhaltend mit meinem Atheismus, habe mich als Christen bezeichnet, weil es einfacher war.
Aber irgendwann habe ich gedacht, warum eigentlich und einem Lehrer in Bangladesh (einem zutiefst muslimischen Land) erklärt, daß ich nicht an Gott glaube.
Darauf folgten einige der drei interessantesten Stunden meines Lebens, weil er ein einem Land aufgewachsen ist, in dem Religion das Selbstverständlichste ist, das wegen der Religion gegründet wurde und in dem Jeder eine Religion hat und das Konzept von Atheismus überhaupt nie vorgedrungen ist. Er war unglaublich interessiert, hat Fragen gestellt und es war wie gesagt eine der Interessantesten Gespräche meines Lebens.
Daher plädiere ich für die Diskussion. Zeigt Respekt und Interesse für das Gegenüber, tauscht Euch aus und lernt neues kennen!
Pingback: Wochenrückblick 05/2013 | Kristine Honig
Urlaubsliste
Bist Du noch in Jerusalem? Falls ja, die besten Fallafel gibt es in einer Seitenstraße der Ben-Yehuda-Street. Das Restaurant heißt Falafel King und ist wirklich gut! Wurde mir von einem Einheimischen empfohlen.
Robert
wunderbar, wie Du die Stimmung in Jerusalem eingefangen hast. So viele Verrückte auf einem Haufen gibt es wahrscheinlich nur da, faszinierend, wie Du es treffend beschreibst